Maritime Volkskunde an der deutschen Ostseeküste
Größere maritim-volkskundliche Projekte begannen in Deutschland – angeregt durch frühe Wrackfunde – im Jahre 1900 mit einer Fragebogenaktion der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (Berlin) zum Gegenwartsbestand volkstümlicher Wasserfahrzeuge. Es folgten Studien zur Bootskunde und zum Bau hölzerner Frachtsegler (Hans Szymanski, Walther Mitzka) sowie zur Tätowierung in den deutschen Hafenstädten (Adolf Spamer). In Mecklenburg führten die Forschungen von Richard Wossidlo (1859–1939), dem Begründer der Volkskunde in den beiden Großherzogtümern, recht spät, aber dann umso intensiver in den 1920er und 1930er Jahren zur Erforschung des Seemannslebens zur Segelschifffahrtszeit. Das beeindruckende Ergebnis konnte 1940 und sogar noch 1943 präsentiert werden: die zunächst zweibändige Materialedition „Reise, Quartier, in Gottesnaam. Das Seemannsleben auf den alten Segelschiffen im Munde alter Fahrensleute“. Bis heute folgten 10 (!) Nachauflagen.
Nach dem Krieg konnte Wolfgang Steinitz, Vizepräsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften und Direktor des Instituts für deutsche Volkskunde an der AdW, den Wossidlo-Nachlass in eine eigens zur Aufarbeitung des Bestandes und zur weiteren volkskundlichen Forschung gegründeten Rostocker Arbeitsstelle des Berliner Akademieinstituts (Wossidlo-Archiv) überführen und sichern. Steinitz, der Wossidlos Arbeit über die seefahrende Küstenbevölkerung kannte und an deren Fortsetzung dachte, konnte 1956 eine Studie zur pommerschen Fischervolkskunde anregen, mit der Reinhard Peesch (1909–1987) beauftragt wurde. Als Ergebnis veröffentlichte Peesch 1961 seine Habilitationsschrift „Die Fischerkommünen auf Rügen und Hiddensee“, die einen besonderen Nebeneffekt gehabt hat: Einbezogen werden konnte Wolfgang Rudolph (1923–2014), der zu jener Zeit bereits mit der Erforschung der maritimen Kulturgeschichte der Insel Rügen beschäftigt war. Peesch und Rudolph erweiterten die Arbeiten zu einer umfassenden Inventarisation der Fischereigeräte, der Boote sowie der Verhältnisse auf den Bootswerften entlang der Küste von Mecklenburg und Vorpommern. 1973 begann Wolfgang Rudolph mit Arbeiten zum zweiten Abschnitt – unter Einbeziehung der maritimen Wohnweise, der kulturellen Situation in den Hafenstädten und der Erkundung spezieller Beziehungen zwischen Hafenstadt und Seefahrerdorf mit dem Ergebnis des Nachweises und der Periodisierung der maritim-kulturellen Entwicklung an der südlichen Ostseeküste zwischen Kleinem Belt und Kurischem Haff von etwa 1600 bis 1900.
Mit seinen Forschungen und zahlreichen Veröffentlichungen hat Wolfgang Rudolph entscheidend dazu beigetragen, dass Mecklenburg und Vorpommern als kulturgeschichtlich besterforschte Regionen im gesamten deutschen Küstenraum angesehen werden. Das auffällige Fehlen solcher Studien in Schleswig-Holstein führte 1990/91 unter maßgeblicher Beteiligung von Wolfgang Rudolph zur Dokumentation des maritimen Kulturwandels an der schleswigschen Fördenküste seit 1945. Eine ähnliche Dokumentation in Mecklenburg-Vorpommern – hier aufgrund der sich seit der deutschen Wiedervereinigung vollziehenden gravierenden Veränderungen des maritim-kulturellen Alltagslebens breiter Schichten der Küstenbevölkerung besonders dringlich – wird seit 1997 von Wolfgang Steusloff durchgeführt. Dessen vorausgegangene volkskundliche Arbeiten und Veröffentlichungen begannen in den 1970er Jahren mit der Erforschung der Kulturgeschichte der Kirchen-Schiffsmodelle in Mecklenburg und Vorpommern. Auf Anregung von Wolfgang Rudolph folgte eine Untersuchung der Tätowierungen unter DDR-Seeleuten aus der Handelsschifffahrt und der Hochseefischerei, der sich eine volkskundliche Dokumentation des Bordlebens auf Rostocker Handelsschiffen (Deutsche Seereederei 1950-1990) anschloss. Die „landseitige“ Fortsetzung bildete eine Untersuchung zur maritimen Wohnkultur unter besonderer Beachtung der Art, Verwendung und Funktion dekorativer Seefahrermitbringsel von Angehörigen der Deutschen Seereederei Rostock, die 1998 unter dem Titel „In der Ferne und daheim“ publiziert wurde.
Aus dem aktuellen Projekt „Maritimer Kulturwandel in Mecklenburg-Vorpommern –Veränderungen an Seestrand, Haff und Bodden seit 1990“ sind von Wolfgang Steusloff inzwischen alle relevanten Themenbereiche einzeln und ausführlich veröffentlicht worden, eine zusammenfassende Buchpublikation ist in Vorbereitung.
Zur maritimen Volkskunde im Ostsee- und Nordseeraum ausführlich in:
Rudolph, Wolfgang: Ein Jahrhundert maritime Volkskunde im Ostsee- und Nordseeraum. Von der Bootskunde zur Erforschung der maritimen Kultur. In: Deutsches Schiffahrtsarchiv 4 (1981), S.191-204, und in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 24 (N.F. 9) (1981), S.168-182.