Was ist Europäische Ethnologie/Volkskunde?

Landkarte von den Regionen der Volkskunde (copyright 2002 by Birke Sander)

Die Volkskunde ist eine Erfahrungswissenschaft, die von Beobachtungen, Befragungen und Objekten im Alltagsleben ausgeht. Entstanden ist sie als Reaktion auf die Moderne, in deren Sog traditionale Wissensformen zunehmend in Vergessenheit gerieten. Somit traten Sammler (wie in Mecklenburg Richard Wossidlo) auf den Plan, die "altererbte" Erzählungen, Bräuche, Arbeitsweisen oder die mundartliche Lexik festhielten ("Rettet, was noch zu retten ist ...). Mündlichkeit und Überlieferung waren wesentliche Aufnahmekriterien.

Durch seine Fragestellungen, seinen Umgang mit historischen Quellen und vor allem die Nähe zum „Feld“ hat sich das Fach eine unverwechselbare Form wissenschaftlicher Aneignung und Argumentation erarbeitet. In dieser Hinsicht ist "Ethnographie" als fachtypisches Methodenbündel gemeint.

Aus kritischer Selbstreflexion erwuchsen der Disziplin eine Reihe von Umbennungen. So betont der Name 'Europäische Ethnologie' die Abgrenzung zur Völkerkunde und damit ethnische Differenzen, während mit 'Kulturanthropologie' der Fokus auf Wesenheiten des Menschen liegt. Da weder der eine noch der andere Begriff Aufgaben, Gegenstände, Ziele und Arbeitsweisen des Faches ganz abdeckt, benutzen viele Einrichtungen beide (und weitere) Begriffe gemeinsam. Die hiesige Einrichtung will die noch immer nicht abgeschlossene Namensdebatte des Faches erst einmal weiter beobachten und mit "Volkskunde" bewusst an die (phasenweise auch problematische) Herkunft der Disziplin erinnern, ohne damit ein antimodernistisches Fachverständnis signalisieren zu wollen (!).

Noch heute befasst sich die Volkskunde vornehmlich mit der Analyse populärer („volkstümlicher“) und raumbezogener (regionaler oder lokaler) Kulturen, jedoch unter Einschluss der Gegenwart. So hat sich die moderne Unterhaltungsindustrie Inhalte und Funktionen älterer Erzählweisen anverwandelt. Damit liegt ihr Fokus noch immer auf den Lebens- und Kulturformen unterer und mittlerer Sozialschichten. Polarisierende Betrachtungsweisen oder Engführungen (Volks- und Hochkultur, Populär- und Elitekultur, Mehrheit- und Minderheitenkultur) haben sich jedoch in der näheren Analyse als nicht sinnvoll erwiesen, und statt in Schichten und Gruppen werden die Menschen etwa in Netzwerken betrachtet.

Wie damals reagiert auch heute die Volkskunde auf die veränderten Bedürfnisse der Gesellschaft. So betrachtet die Berliner oder Hamburger Richtung des Faches Kulturprozesse im urbanen Großraum, während die hiesige Volkskunde - zumal als einzige universitär verankerte Vertreterin im nordöstlichen Bundesland - den ländlichen Raum, die sich dort begegnenden Menschen und ihre kulturellen Äußerungsformen, betrachtet. Die Datenbestände des Wossidlo-Archivs beschreiben entsprechende Traditionen ("Überlieferungen") vom Landesinneren bis zur Küste vergleichsweise dicht und bieten somit der Gegenwartsperspektive vielfältige Anknüpfungspunkte.

In der DDR war das Fach als Akademie-Institut organisiert und ist seit 1999 universitär strukturiert (siehe Geschichte des Instituts). Die volkskundlichen Lehrangebote sind bislang noch als Serviceleistungen für andere Fächer bestimmt bzw. im Rahmen interdisziplinärer Module frei wählbar.

 

Text: Dr. Christoph Schmitt